„Wir müssen nicht immer alles allein machen“
Die Buchbranche hat Förderung verdient: Das sagt Simone Lippold, die beim Börsenverein ein neues Pilotprojekt im Auftrag der EU-Kommission betreut. Das Ziel: Die Kreativindustrien in Europa zu vernetzen und zehn handfeste Prototypen für die digitale Zukunft zu entwickeln.
Wie lässt sich die Entwicklung innovativer Produkte und Geschäftsmodelle in den europäischen Kreativbranchen ausweiten und beschleunigen? Darauf will die EU-Kommission mit dem Pilotprojekt "Platform(s) for cultural content innovation" Antworten finden. Den Zuschlag zur Umsetzung hat die Börsenvereinsgruppe im Januar erhalten.
Ein deutscher Branchenverband setzt ein Pilotprojekt der EU-Kommission für die gesamte Kreativindustrie um. Glücklicher Zufall - oder strategisch geplant?
So etwas sollte immer gut geplant sein und nicht aus dem Bauch heraus angegangen werden. In der Börsenvereinsgruppe gibt es - initiiert durch die Frankfurter Buchmesse - seit 2013 ein aktives Engagement für Innovationsförderung auf EU-Ebene, sowohl was Advocacy als auch das Scouting betrifft. Ebenfalls gibt es schon seit längerer Zeit eine Arbeitsgruppe für Unternehmensentwicklung, in der MVB, Frankfurter Buchmesse und Verband ihre strategischen Ziele beständig abgleichen und weiterentwickeln. Dabei hat sich die Innovationsförderung als ein gemeinsames Ziel der gesamten Gruppe herauskristallisiert – nicht nur auf deutscher, sondern auf europäischer Ebene. Darauf haben wir hingearbeitet.
Welche Erfahrungen kann die Börsenvereinsgruppe in die Waagschale werfen?
Zum einen natürlichdurch den CONTENTshift-Accelerator, ein internationales Förderprogramm für Start-ups, das wir seit 2016 organisieren, um Gründer mit etablierten Branchenunternehmen zusammenzuführen. Zum anderen internationale Sichtbarkeit durch innovative Formate wie THE ARTS, das Festival für die Kreativindustrien, das seit ein paar Jahren auf der Frankfurter Buchmesse stattfindet. Außerdem natürlich die guten Kontakte des Börsenvereins nach Brüssel und die Erfahrungen, die die Buchmesse aber auch die MVB bereits als Partner einiger EU-Projekte gesammelt haben. Gemeinsam wollen wir jetzt ein größeres Rad drehen und auch auf EU-Ebene ein Innovationstreiber sein. Wir wollen nicht nur bei Förderprogrammen mitmachen – sondern sie auch mitgestalten. Das wird uns mit diesem Projekt hoffentlich gelingen.
Wie intensiv muss man die politische Szene in Brüssel dafür beobachten?
Sehr intensiv. Die Börsenvereinsgruppe hat einen kurzen Draht in die EU, nicht zuletzt über das Berliner Büro des Börsenvereins, das auch die politische Arbeit in Brüssel sehr genau verfolgt und mit der Federation of European Publishers (FEP) eng zusammenarbeitet. Speziell für das Scouting von Fördermöglichkeiten haben wir auch Unterstützung durch Nina Klein, die früher lange bei der Buchmesse beschäftigt war und seit 2013 als Beraterin im Bereich EU & Business Development in Brüssel tätig ist. Dadurch wissen wir, welche Förderprogramme gerade aufgelegt werden. Ergibt sich eine Chance, muss man schnell sein: Die Ausschreibungsfristen sind in der Regel sehr kurz…
Wie kurz in diesem Fall?
Wir hatten sechs Wochen, um das detaillierte Konzept und den konkreten Zeitplan für das Pilotprojekt auszuarbeiten, Partner zu suchen und das Budget aufzustellen. Das ist schon ambitioniert und mit einigem Aufwand verbunden.
Hätte der Börsenverein den Zuschlag auch ohne deutsche Kommissionspräsidentin bekommen?
Die Fäden laufen eher auf anderen Ebenen – und sehr viel früher - zusammen. Wie gesagt laufen unsere Aktivitäten für ein europaweites Innovationsnetzwerk der Kreativindustrien schon seit 2013. Dazu gab es zum Beispiel regelmäßige Treffen mit der EU in Brüssel, aber auch Veranstaltungen hier in Deutschland, etwa im Rahmen von THE ARTS+ oder CONTENTshift-Accelerator auf der Frankfurter Buchmesse. Umgekehrt hat die EU schon früh die Chancen einer digitalen Innovationspolitik für die Kreativindustrien erkannt. Der deutsche EU-Parlamentarier Christian Ehler etwa ist ein Förderer der Kreativindustrie und vertritt eine parteiübergreifende Gruppe im Europäischen Parlament, bei der Kultur- und Industriekommittee im Bereich der Kreativindustrien zusammenarbeiten. 2018 haben wir ihm von unseren Überlegungen erzählt, ein europaweites Projekt zur Innovationsförderung aufzusetzen. Damit haben wir offene Türen eingerannt. Im Sommer 2019 wurde das Pilotprojekt ausgeschrieben – im Rahmen des EU-Programms „Creative Europe“. Dahinter steht die Erkenntnis: Wir sind eine Branche, die Förderung verdient hat – und sie auch nötig hat. Und: wir müssen nicht immer alles allein machen – wir können von und mit anderen Branchen lernen.
650.000 Euro stehen bereit. Nur für den Börsenverein oder für das ganze Projekt mit allen europäischen Partnern?
Für das gesamte Projekt. Die Börsenvereinsgruppe bekommt in diesem Fall einen etwas größeren Anteil, weil er das Vorhaben federführend betreut. Die EU fördert solche Projekte mit 60 Prozent – die anderen 40 Prozent sind Eigenleistungen des Initiators und seiner Partner. Die Börsenvereinsgruppe stemmt ihren Anteil etwa durch die Arbeit des Teams oder durch Synergie-Effekte mit anderen Projekten wie etwa THE ARTS+ oder die bereits bestehende Innovationsplattform CONTENTshift in Zusammenarbeit mit den Coaches des Accelerators.
Kennen Sie die Partner aus den anderen Kreativindustrien schon?
Es sind tolle Partner dabei, die schon seit Jahren Erfahrungen mit EU-Projekten haben und die entsprechende Expertise mitbringen. Einige davon engagieren sich auch im „Content Innovation Council“, den wir auf der Frankfurter Buchmesse 2019 gegründet haben – eine cross-sektorale Gruppe bestehend aus rund 20 europäischen Experten. Dazu gehört zum Beispiel Media Deals – ein Investorennetzwerk aus Berlin, das sich mit der Finanzierung von Kreativ-Start-ups bestens auskennt. Ein anderer Partner ist die spanische Produktionsfirma Firma Mediapro, die auf audiovisuelle Inhalte und Augmented Reality spezialisiert ist. Welche Ansätze aus anderen Branchen können wir adaptieren? Finden wir vielleicht auch neue Lösungen, die für alle funktionieren? Darum geht es bei dem Pilotprojekt. Letztlich stellt die Digitalisierung ja die gesamte Kreativindustrie vom Verlag bis zum Musiklabel vor ähnliche Herausforderungen.
Werden am Ende des Pilotprojekts konkrete Innovationen stehen – oder geht es vor allem um Vernetzung und Austausch?
Um beides. Wir wollen die Kreativindustrien vernetzen und voneinander lernen lassen. Aber am Ende des Projekts, das auf 18 Monate angelegt ist, sollen Prototypen stehen, die konkrete Lösungen für konkrete Herausforderungen der Digitalisierung aufzeigen. Die EU erwartet sich von diesem Pilotprojekt auch Empfehlungen, wie künftige Förderprogramme und politische Rahmenbedingungen gestaltet sein sollen, um die europäischen Kreativindustrien bestmöglich bei Innovationen zu unterstützen. Zentral sind also die Bedürfnisse kleinerer und mittlerer Unternehmen aus der Kreativindustrie und die Frage, wie sie von politischen Rahmenbedingungen, also etwa Förderungen, profitieren können – europaweit, aber auch national.
Der Börsenverein ist der einzige Partner aus dem Buchbereich. Ist die deutsche Buchbranche mit dem Thema Innovation und Digitalisierung vielleicht sogar weiter als die Buchbranchen anderer Länder?
Ich glaube, die Börsenvereinsgruppe ist bei der Innovationsarbeit gut dabei, nicht zuletzt durch die Entwicklung von VLB-TIX, der CONTENTshift Innovationsplattform und Formaten wie THE ARTS+. Bei Projekten aus der Branche heraus ist das aus meiner Sicht etwas anders. Es gibt zwar viele innovative Ideen, Ansätze und auch Startups – aber auf der Ebene des deutschen oder internationalen Marktes schlägt bislang kaum etwas ein. Thalias Lesegerät Tolino oder auch die Toniebox sind hier – wunderbare! - Ausnahmen. Von diesen „Leuchttürmen“ hätten wir gern mehr, auch mithilfe der politischen Ebene.
Womit startet das Pilotprojekt im März?
Mit einem Kick-Off-Meeting aller Partner, bei dem der genaue Zeitplan festgelegt und die Aufgaben verteilt werden.
Im Sommer soll ein großes Netzwerktreffen folgen, der zweitägige „Content Innovation Inspirathon“. Was muss man sich darunter vorstellen?
Das ist das Herzstück – ein zweitägiges Brainstorming mit hoffentlich vielen klugen, kreativen Köpfen. Am ersten Tag machen wir Kassensturz: Welche Probleme hat die Kreativindustrie, wo brauchen wir Unterstützung? Am zweiten Tag folgt der nächste Schritt: Welche Projekte und Produkte können den Weg in die Zukunft weisen? Ziel ist es, 10 Prototypen für Geschäftsmodelle zu entwickeln, die in Arbeitsgruppen weiter ausgefeilt werden. Auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober wollen wir diese Prototypen präsentieren und mit dem Fachpublikum diskutieren. Ich hoffe, dass spätestens dann viele in der Branche erkennen, welche Chancen in dem Pilotprojekt stecken. Und wie wichtig es ist, über den Tellerrand zu blicken – obwohl oder gerade weil alle mit dem Alltagsgeschäft vollauf beschäftigt sind.
Was bleibt, wenn die 18 Projekt-Monate vorbei sind?
Ein stabiles Netzwerk europäischer Innovationstreiber aus den wichtigsten Kreativindustrien. 10 marktfähige Geschäftsideen, die ihre Anschubfinanzierung hoffentlich schon in der Tasche haben. Empfehlungen an die EU-Politik, unter welchen politischen Rahmenbedingungen Innovationen in den Kreativsektoren am Besten gedeihen. Und dann gibt es natürlich noch die „Content Innovation Platform“, die wir in den nächsten Monaten aufbauen wollen: Eine Website, über die sich die Projektpartner und Branchen austauschen und mit ihren Ideen und Lösungen vorstellen können. Diese Plattform wird ja nach 18 Monaten nicht vom Netz gehen, sondern soll nachhaltig wirken.
Projektbausteine auf einen Blick:
Partnerorganisationen
CONTENTshift als Dachmarke
Internationale Innovationsförderung ist für die Börsenvereinsgruppe kein Neuland. Seit 2016 organisiert sie den CONTENTshift-Accelerator, der Gründer coacht, mit der Branche vernetzt und das Content-Start-up des Jahres kürt. Mit dem "CONTENTshift startup club" gibt es zudem seit 2014 eine spezielle Gründermitgliedschaft im Verband.
"Wir bauen CONTENTshift derzeit zur Dachmarke für die gesamte Innovationsförderung der Börsenvereinsgruppe aus", so Stefanie Perk, die CONTENTshift betreut: "Das Pilotprojekt der EU wollen wir mit dem Wettbewerb verzahnen, Kontakte in beide Richtungen nutzen."